KiLe-Blog
Alltag in der Apotheke
Umräumen mit Hüftschwung
Immer, wenn ich eine Packung eines bestimmten Erkältungsmittels in die Hand bekomme, kommt mir eine Melodie in den Sinn. „Guantanamera, Guanjira Guantanamera…“ Man kann den „unaussprechlichen“ Arzneimittelnamen problemlos auf diese Melodie singen und dazu kubanische Hüftbewegungen (cuban action in der Rumba) ausführen, wenn man mag, und schon macht das Leben Spaß.
In Apotheken gibt es eine Sichtwahl. Das sind die Regale hinter dem Handverkaufstisch. Hier werden apothekenpflichtige Arzneimittel präsentiert, ohne dass Kunden direkt Zugriff darauf haben dürfen. Die Bestückung dieser Regale unterliegt einem jahreszeitlichen Wechsel.
Bevor die erste Erle blüht, müssen die Heuschnupfenmittel ins Regal. Spätestens im Juni eines jeden Jahres werden sie wieder in den Schubladen verstaut. Die Regalböden werden vom Pollenstaub des Frühjahrs befreit und mit Sommer-Sonnenbrand-Antimückenmitteln bestückt. Wenig später wird die Sommer-Ware in den Schubladen versenkt und die Erkältungsmittel kommen auf die frisch gewienerten Böden. Hier kommt das Lied ins Spiel - und schon bekommt das langweilige Umräumen einen neuen Schwung!
„Guantanamera“ wurde von unzähligen Künstlern mit unterschiedlichsten Texten gesungen. Udo Jürgens hat auf diese Melodie „Wer zählt die Tränen“, Klaus und Klaus haben „Ein Rudi Völler“ und Bernd Stelter „Ein Bier im Keller“ gesungen. Unser Text fügt sich anspruchslos in diese Reihe ein.
Heutzutage gibt es eine digitale Sichtwahl und ein automatisiertes Warenlager. Aber hin und wieder fragt ein Kunde nach diesem Mittel und dann summen wir beschwingt die eine oder andere Melodie.
In der Warteschlange
In Nöten - ohne Not
Aus der Warteschlange heraus ruft eine junge Frau: „Süße, wo bist du?“ – „Hiehier!“, antwortet eine helle Kinderstimme aus der Spielecke. Wenig später ruft die Mutter wieder: „Süße, geht’s dir gut?“ Die helle Stimme antwortet fröhlich: „Jaha!“ und eine Sekunde später: „Ich muss Aa!“
Die ganze Apotheke verstummt. „Habe ich das wirklich gerade richtig verstanden?“ – „Hat sie gerade wirklich Aa gesagt?“ – „Haben die anderen das auch gehört?“ Jeder versucht es zu ignorieren, blickt verstohlen auf den Boden, hält die Luft an. Das kann nicht sein. Das sagt man nicht. Es gehört sich nicht. Und was soll die Mutter jetzt tun? Die Mutter atmet einmal tief ein und aus und scheint sich genau diese Frage zu stellen.
„Was habe ich da gehört? Da muss jemand auf die Toilette? Da können wir doch helfen.“ Mutter und Kind dürfen die Personaltoilette aufsuchen. Was muss, das muss. Die Menschen in der Apotheke atmen aus. Man hört ein erleichtertes Lachen. Das Hintergrundgeräusch der Kundengespräche schwillt wieder an.
Ist es nicht schön, wenn das Kind sagt, es ginge ihm gut UND es müsse auf die Toilette? Jeder der anwesenden Erwachsenen hätte auf die Frage „Geht’s dir gut?“ in dieser Situation verschämt und ganz leise ein Nein geflüstert: „Nein, es gibt ein Problem. Es geht mir nicht gut, weil ich auf die Toilette muss. Weil es im Umkreis von einem Kilometer keine öffentliche Apotheke gibt. Weil ich mich schäme, es jemandem zu sagen und darum zu bitten, eine private Toilette zu benutzen.“
Und umgekehrt: Wie oft fragt uns jemand – ebenfalls verschämt – nach Hilfe, weil er unter Verstopfung leidet.
Wer kann in diesem Zusammenhang auf die Frage „Geht es Ihnen gut? Geht es dir gut?“ fröhlich laut mit „Jaha!“ antworten?
Das Kind kann es. Für ihn erscheint sein Leben (noch) ohne Scham und ohne Not. Und wir haben dazu beigetragen, dass es erst einmal so bleibt.
Menschen in der Apotheke
Mehr Sein, weniger Schein
Über Jahre besuchte uns eine Dame, die bereits beim Betreten der Apotheke den Raum mit ihrer Erscheinung füllte und alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie schritt auf den HV-Tisch zu und war ungehalten, wenn sie nicht gleich mit Namen angesprochen wurde. Sie erschien als eine V.I.P., denn sie war die Frau eines wichtigen Mannes der Stadt. Quasi eine "Frau Doktor", auch wenn nicht sie, sondern ihr Mann den Titel führte.
Dann wurde ihr Mann schwer krank. Mit ihrem nun schwachen und hilfebedürftigen Mann an ihrer Seite stand sie nun nicht mehr als "Frau Doktor", sondern als "Frau eines hilflosen alten Mannes" vor uns. Sie versuchte, ihr Selbstbild aufrecht zu halten. Sie reagierte ungehalten auf die Schwäche ihres Mannes und schimpfte mit ihm, er solle sich doch wenigstens hier in der Apotheke zusammenreißen.
Wir haben sie beide mit den verordneten Arzneimitteln versorgt. Und wir haben sie - ohne Worte - umsorgt: ihn mit unserer Wertschätzung, sie mit der Bestätigung, dass wir sie weiterhin achten, beide mit dem Versprechen, sie auch in schwierigen Zeiten zu unterstützen.
Ich hoffe, sie hat an dem Tag verstanden, dass wir jedem Menschen in der Apotheke den gleichen Respekt entgegen bringen. Sowohl den Honoratioren der Stadt (gibt es sie überhaupt noch?) als auch den Menschen ohne Titel und Amt. Sowohl dem eiligen Kunden, der online vorbestellt hat, als auch dem, der - wenn er vor uns steht - nicht mehr weiß, was er eigentlich wollte. Sowohl dem "Einheimischen" als auch dem "Zugezogenen".
Warteschlangen
Gedanken zum Warten
Unsere Kunden und Patienten kommen meistens im Pulk, also als Busladung, in unsere Apotheke. Sie kennen unsere (ungeschriebene) Regel: zwei Eingänge, eine Warteschlange. Sie reihen sich meist ohne Aufsehen ein und rücken vor, sobald es geht. Wenn sie dann an der Reihe sind, nehmen wir uns für jeden Kunden die Zeit, die er braucht, mal mehr (wenn nötig), gerne auch weniger.
Eine Kollegin kam auf die Idee, einen Korb aufzustellen, angefüllt mit kleinen Packungen "Dinkelchen" versehen mit einem Plakat: "Zur Versüßung Ihrer Wartezeit".
Eine Begegnung geht mir nicht aus dem Kopf: Ein junger Mann tritt zu mir aus der Warteschlange an den HV-Tisch und sagt ohne weitere Begrüßung: "Sie müssen die Süßigkeiten auffüllen. Der Korb ist leer." Ich bedanke mich für den Hinweis und verspreche, mich gleich darum zu kümmern. "Besser als Süßigkeiten wären irgendwelche Pillen zur Lebensverlängerung", redet er weiter. "So viel Lebenszeit, wie man bei Ihnen beim Warten vernichtet." Dann erst nennt er mir seinen Wunsch - ich habe vergessen, was es war.
Aber seine Bemerkung kann ich nicht vergessen. Lebenszeit vernichten. Der Vorwurf sitzt. Einige Kunden lenken sich ab und nutzen die Zeit, um auf dem Handy Nachrichten zu checken. Die meisten aber nutzen diese Wartezeit, um sich umzusehen und zu beobachten. Und im besten Fall sogar mit anderen Kontakt aufzunehmen: Man trifft sich, man plaudert. Übers Wetter, über die Politik, über die gefällte Kastanie auf der Hauptstraße oder den neuen Kreisverkehr. Man ärgert sich vielleicht gemeinsam über den Personalmangel in Gesundheitsberufen. Dabei gibt es immer auch jemanden, der beschwichtigt und für uns einsteht: "Die tun, was sie können."
Vor die Tür gehen, in ein Geschäft, Menschen treffen, sich einreihen in die Abläufe des Alltags - das ist Leben.
Was hätte der junge Mann mit seiner Zeit sonst gemacht? Hätte er sie schöner genutzt? Hätte er mehr Freude empfunden? Mit einem anderen Menschen an seiner Seite? Ich wünsche ihm, dass er das nachgeholt hat.